musica reanimata - December 2017
Förderverein musica reanimata, Berlin
December 2017
Gottfried Eberle
Ungehört - unerhort
Musik von Otto Jokl, Erich Itor Kahn, Hans Walter Süsskind u.a. auf einer CD des Ebony Quartetts
Er ist ein unermüdlicher Sucher und Entdecker verborgener, verfemter Musik, einer Musik, die sich im Klima des Nationalsozialismus nicht entfalten durfte: Werner Herbers. Seine eigene Biografie wuchs heraus aus einem Emigrationsschicksal des Dritten Reichs. Sein Vater, engagierter Pädagoge und Pazifist in Kassel, sah sich frühzeitig veranlasst, in die Niederlande auszuwandern. Dort ist Werner Herbers dann 1940 geboren, dort ist er aufgewachsen und hat in Amsterdam eine umfängliche Ausbildung zum Oboisten, Pianisten und Dirigenten genossen. Mehr als 30 Jahre lang, von 1970 - 2005, war er Solo-Oboist im Concertgebouworkest. 1990 gründete er die Ebony Band, der vor allem Musiker aus dem Concertgebouworkest angehören. Sie hat es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, Werke von Komponisten aufzuführen, die Opfer von Gewaltherrschaft geworden sind.
Unter den CD-Veröffentlichungen des Ensembles ragen zwei CDs mit Werken von Schulhoff heraus sowie eine mit Werken von Stefan Wolpe. Herbers initiierte ferner eine bibliophile Faksimileausgabe der l0 Themen für Klavier von Erwin Schulhoff mit den dazugehörigen kubistischen Bildern von Otto Griebel und einer beiliegenden Einspielung des Werks.
Auf der vorliegenden CD spielt nun nur das Streichquartett der Ebony Band und begleitet eine Sängerin und einen Sprecher. So unbekannt die Komponisten dieser CD zum Teil sind, so hochrangig ist doch durchweg ihre Musik. Diese ungehorte Musik ist durchweg auch unerhörte Musik. Werner Herbers hat einmal mehr seine Überzeugung belegt, dass ohne die Musik der verfemten Komponisten die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts unvollständig ist, dass ihr kostbare Kleinodien fehlen würden. Und diese CD zeigt, dass es zwischen den Mainstreams der Schönberg- und Hindemith-Schule eine Fülle ganz anders gearteter Strömungen gab, die neue Facetten ins Bild des Jahrhunderts bringen.
Da ist zunächst Erich Itor Kahn, der bei musica reanimata schon zu erleben war, freilich nur mit seinen Zwölftonkompositionen. Kahn nahm Schönbergs Theorie 1933 in die Emigration nach Paris mit, wo er der erste Zwölftöner war und die Technik an René Leibowitz weiterreichte, der als Zwölftontheoretiker bekannter wurde als er. Das hier vorliegende ,,Fragment eines unvollendeten Streichquartetts" stammt aus Kahns frühester Zeit (1924 oder frtüher), liegt noch vor der Begegnung mit der Dodekaphonie und spricht eine blühende expressionistische Sprache, die noch von der Tonalität ausgeht.
Aus einem g-moll-Bordun erheben sich melancholische Terzparallelen. Bald aber werden ferne tonale Regionen erreicht, die Musik klammert sich auch an scharfen Dissonanzen fest, kennt rücksichtslos polyphone Stimmführungen, Ganztonfelder, kommt aber auch zu jubelnden Aufschwüngen. Es war wohl Einsätzigkeit angestrebt. Das vorliegende Fragment ist bereits l0 Minuten lang und schlieBt in sich die verschiedenen Tempi und Charaktere des traditionellen mehrsätzigen Streichquartetts ein. Das Stück atmet eine Klangsinnlichkeit, die Kahn später zugunsten strenger Struktur preisgab.
Als Komponist so gut wie unbekannt ist Hans Walter Süsskind (1913- 1980). Er hat sich vor allem als Dirigent und Pianist einen Namen gemacht. Auf dem Klavier spielte er das Neueste seiner Zeit, Schönberg, Hindemith und Bartók. Komposition studierte er bei Josef Suk und Alois Hába, Dirigieren bei George Szell, dessen Assistent am Deutschen Theater in Prag er wurde. Zwei Tage vor dem Einmarsch der Deutschen floh er 1939 aus seiner Heimatstadt Prag und war danach in der ganzen Welt zuhause. Süsskind arbeitete eng mit dem kommunistischen Dichter Louis Fürnberg zusammen, der in den dreiBiger Jahren Agitpropgruppen gründete. 1933 wurde er von den Nazis verhaftet und emigrierte nach seiner Freilassung nach Palästina. Nach dem Krieg lieB er sich in der DDR nieder. Jeder kannte dort sein Lied ,,Die Partei, die Partei hat immer recht". Neben Arbeiterliedern schufen Süsskind und Fürnberg den melodramatischen Zyklus 'Rechenschaft über uns', der ein Zeitpanorama darstellt, die Entwicklung zu sozialistischer Haltung beschreibt, von einer Kindheit im Ersten Weltkrieg über die Jazzbegeisterung der zwanziger Jahre, erste Liebeserlebnisse und Erfahrungen in der Arbeitswelt, Erfahrungen von Not und Elend bis hin zur Hoffnung auf ein neues Leben. Das Werk hatte im November 1933 in Burians politischem Theater D34 in Prag Premiere.
Die Sprechstimme, die von Daniel Reuss eindringlich gestaltet wird, ist rhythmisch exakt mit der Begleitung koordiniert. Der Tonhöhenverlauf scheint annähernd angegeben zu sein nach Art des Pietot Lunaire von Schönberg. Die Musik startet mit herben Dissonanzen: ,,Viele verstehen nicht unser Tun". Sie begibt sich in stockenden Marschschritt bei der Schilderung des Ersten Weltkriegs. Jazzklänge begleiten die zwanziger Jahre, zögernde Einstimmigkeit die ersten Liebeserfahrungen. Unisoni, aber auch zweistimmige Polyphonie begleiten die Arbeitswelt, ein Cellosolo trägt die Entwicklung vom Knaben zum Jüngling. Ein rhapsodisches Dissonanzenfeld kündet von ,,Not und Elend". Gegen Ende bricht immer mehr Agitationston ein, ohne dass die Melodik trivial würde.
Ein stilistisch vielfältiges Panorama entfaltet Süsskind in diesem zehnteiligen Zyklus.
Stilistisch noch einmal ganz anders sind Süsskinds Lieder auf Texte des Beinahe-Namensvetters Wilhelm Emanuel Süskind. Der war in den dreiBiger Jahren bei den deutschen Pragern bekannt als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist (und berichtete später für die Süddeutsche Zeitung über die Nürnberger Prozesse). Er war der Vater des Schriftstellers Patrick Süskind (Der Kontrabass, Das Parfum). Die Gedichte, die Süsskind vertonte, erschienen 1928 in der Sammlung ,,Junge deutsche Lyrik". Sie sind Naturlyrik, Liebeslyrik und schlieBlich ein Anruf an Gott, Todeserfahrung zu lehren. Süsskind zeigt hier, dass er noch einen ganz anderen Tonfall beherrscht als im Fürnberg-Zyklus: einen lyrisch zarten, hochmelodischen. Die Singstimme wächst aus dem Streichquartettklang heraus, erscheint eingeschmolzen in ihn als fünfte Stimme. Dem wird die wundervoll instrumental geführte Mezzosopranstimme von Barbara Kozelj voll gerecht. Schwebendes Schreiten durchwirkt das zweite Lied ,,Heimweg", zu extremer Lage erhebt sich das dritte Lied ,,Die Geliebte", und das Schlusslied ,,Der Sterbliche" entfaltet sich von majestätischem Unisono zu tippig blühendem Klang.
Josef Matthias Hauer legte viel Wert darauf, dass er schon vor Schönberg, nämlich im Jahr 1918, ein Zwölftonsystem vorgestellt hatte, das freilich nicht auf Reihen mit fester Tonfolge basierte, sondern eher auf Klangfeldern, die alle 12 Töne in wechselnder Anordnung enthalten ähnlich wie die Werke einiger Russen, die noch frtüher, seit 1912, zur Dodekaphonie gelangt waren: Obuchow, Roslawez, Lourié und Golyschew. Hauers erste Streichquartettkomposition, die Fünf Stücke op. 30, die 1924 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurden, bewegen sich abseits der Dodekaphonie der Zeitgenossen, umkreisen Dreiklänge in erweiterter Tonalität, kennen auch Ganztonfelder und die Harmonien des Impressionismus und Expressionismus. Sie exponieren im vorletzten Satz rhapsodisch knappe Gesten und gelangen im Schlusssatz zu einer flirrenden Sommernachtstraum-Atmosphäre, die in klares C-Dur mündet.
Der Name Otto Jokl (1891-1963) war mir bislang unbekannt, abgesehen von dem Beitrag von Werner Herbers in den mr-Mitteilungen 9l (Dez. 2016), in dem er die Schwierigkeiten beim Beschaffen des Notenmaterials schilderte. Der gebürtige Wiener gelangte nach einem Studium in seiner Heimatstadt - er wurde 1926 Schüler und später Assistent von Alban Berg - als Korrepetitor und Dirigent an die Berliner Krolloper. Er war seit Anfang der dreiBiger Jahre mit seiner Musik auBerordentlich erfolgreich, gewann zweimal den Emil-Hertzka-Preis, hatte aber als Jude und Zwölftöner im Nazireich keine Chance. Er hoffte vergeblich, nach dem ,,Anschluss" Österreichs durch eine Konversion zum Katholizismus, bei der Anton Webern Taufpate war, der Ächtung zu entgehen. Er emigrierte in die USA, wo er sich mit Fabrikarbeit, als Notenkopist und Komponist von Unterhaltungsmusik über Wasser zu halten suchte. Sein Zweites Streichquartett op. 28 wurde am 4. Dezember 1948 in New York uraufgeführt und gewann einen Preis.
Das Werk fasst in sich die besten kompositorischen Eigenschaften von Jokls Lehrer Alban Berg. Es ist atonal, verschmäht aber nicht Dreiklangsbildungen. Die Thematik im Kopfsatz ist prägnant, musikantisch, und durchblutet in entwickelter Polyphonie den ganzen Tonsatz. Der zweite Satz, der das Scherzo vertritt, kommt spielerisch, tänzerisch, vorwiegend homophon daher und hat einen Mittelteil voll lyrischer Wärme. Der letzte Satz, ungewöhnlicherweise ein Adagio, entfaltet expressiven Gesang, setzt lichten, ätherischen Feldern dunkle Antworten entgegen und verschwebt am Ende. Ein reiches Werk in bester Streichquartett-Tradition.
SchlieBlich Louis Gruenberg (1904-1961). Die jüdischen Eltern emigrierten wenige Monate nach seiner Geburt von WeiBrussland in die USA, wo der Vater in New York Geiger am Jüdischen Theater wurde. Mit 20 ging Gruenberg zu Busoni und wurde ein gefeierter Konzertpianist. Als Komponist strebte er einen spezifisch amerikanischen Konzertstil mit Elementen des Jazz an. Four Indiscretions wurden 1925 vom Pro-Arte- Quartett in Paris uraufgeführt. Der Titel mag daher rühren, dass Gruenberg hier die Diskretion der gehobenen Gattung Streichquartett durchbricht und Elemente der modernen Tanzmusik einbezieht, auch vor schmalzigen Melodien nicht zurückschreckt. Ungeniert bewegt er sich über lange Strecken in C-Dur, erfindet rustikale Melodien, aber auch schräge Akkorde und lässt seine Musik leichtfüBig entschweben. Mit einer im besten Sinne unterhaltsamen, aber keineswegs oberflächlichen Musik beschlieBt er auf dieser CD das farbige Panorama ungehobener Trouvaillen, die unerhörte Facetten einer Epoche freilegen.
Im Streichquartett der Ebony-Band haben sie einen Anwalt, der den Werken alle erdenklichen Facetten abgewinnt und ihre künstlerische GröBe herausstellt.
Erich Itor Kahn: Fragment eines unvollendeten Streichquartetts; Hans Walter Süsskind: Rechenschaft über uns, Vier Lieder; Josef Matthias Hauer: Fünf Stücke fiir Streichquartett op. 30; Otto Jokl: Zweites Streichquartett op. 28; Louis Gruenberg: Vier Diskretionen für Streichquartett op. 20.
Barbara Kozelj, Mezzosopran; Daniel Reuss, Sprecher; Ebony Quartet; Künstlerische Leitung: Werner Herbers. Channcl Classics CCS 40517